

Die Schnittmenge „dunkler“ Eigenschaften
Mein eigenes Vergnügen ist das Einzige, was zählt.
Ich würde selbst einen Schlag hinnehmen, wenn das bedeuten würde, dass jemand, den ich nicht mag, zwei Schläge erhalten würde.
Würde ich andere jemals quälen, hätte ich starke Gewissensbisse.
Auf der Internetseite darkfactor.org wird abgefragt, ob man diesen und einer Reihe ähnlicher Aussagen eher zustimmt oder sie ablehnt. Wer sich durch den Fragebogen klickt, erhält am Ende einen konkreten Wert: den persönlichen Dark-, oder kurz D-Faktor. Das ist das Maß der eigenen „bösen Neigung“ im Vergleich zu anderen Menschen. Der D-Faktor zeigt auf einer Skala von 1 bis 5, wie stark jemand dazu neigt, eigene Interessen rücksichtslos zu verfolgen, selbst wenn dies anderen schadet. Werte ab 3,5 gelten als problematisch: Ab ungefähr dieser Schwelle ist auch sehr ausgeprägt böses Verhalten wahrscheinlich und klinisch relevante Einschränkungen häufen sich. Schon mehr als 2,5 Millionen Menschen weltweit haben den Fragebogen ausgefüllt. Das Ergebnisdiagramm aller bisher Teilnehmenden zeigt eine deutliche Häufung in der Mitte des Spektrums, bei Werten um die 2,3, aber eben auch mit einer großen Streuung. Man könnte sagen: Die meisten Menschen sind eher wenig bösartig.

Was alle dunklen Eigenschaften verbindet
Das Konzept D-Faktor klingt erstmal plakativ, ist aber Ergebnis umfangreicher Forschung. „Unser Ausgangspunkt war eine Beobachtung, die in der Persönlichkeitsforschung lange zu wenig Beachtung fand“, erklärt Benjamin Hilbig, der zusammen mit Morten Moshagen und Ingo Zettler das Konzept entwickelte und ein populärwissenschaftliches Buch zum Thema veröffentlicht hat. „Bisher hat man einzelne problematische Neigungen voneinander unterschieden und einzeln benannt: Egoismus, Gehässigkeit, Narzissmus, Sadismus, Psychopathie und viele mehr. Dabei gibt es bei den wichtigsten Kriterien für derartige Persönlichkeitszüge viel mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede – wer zum Beispiel narzisstisch ist, hat oft auch sadistische, egoistische und psychopathische Neigungen.“ Die scheinbar strengen Abgrenzungen seien deshalb irreführend. Die Frage sei vielmehr: „Was ist das Gemeinsame aller dunklen Eigenschaften? Was macht sie böse?“
Typisch: Alle anderen sind böse
Auf der Suche nach diesem „bösen Kern“, den die Forscher als D-Faktor bezeichnen, nahmen sie sich Ergebnisse gängiger Tests vor, etwa für Narzissmus, Sadismus oder Psychopathie. Mit statistischen Methoden konnten sie nachweisen, dass diese sehr weitgehende Überschneidungen haben – also das, was den D-Faktor ausmacht – und darüber hinaus tatsächlich nichts weiter gemeinsam.
Und was ist diese große Gemeinsamkeit? „Neben der Neigung, anderen zum eigenen Nutzen zu schaden, spielen gewisse Überzeugungen eine zentrale Rolle. Das sind Einstellungen, mit denen Menschen ihr antisoziales und unethisches Verhalten rechtfertigen“, berichtet Hilbig. „Ein besonders klares Signal ist Misstrauen bis hin zu paranoiden Überzeugungen. Menschen mit hohem D-Faktor sind davon überzeugt, dass die anderen einen fertig machen wollen. So eine Haltung macht es wahrscheinlicher, dass eigenes rücksichtsloses Handeln als notwendig oder sogar als sinnvoll eingeordnet wird. Typisch ist auch die zynische Einstellung, ´wenn, beziehungsweise weil alle anderen böse sind, darf ich es auch sein´.“
Nicht alles gehört zum D-Faktor
Jedoch zählt nicht jede Facette einer dunklen Eigenschaft automatisch zum D-Faktor. „Beim Narzissmus gibt es neben totaler Selbstüberhöhung oder Dominanzstreben, die zum D-Faktor gehören, auch den Aspekt der ‚Dünnhäutigkeit‘. Aber diese leichte Kränkbarkeit ist nicht das, was Narzissmus böse macht“, erklärt Hilbig. Böse machen den Narzissmus ihm zufolge diejenigen Aspekte, die er mit anderen „dunklen“ Eigenschaften teilt: ein negativer Blick auf andere und die Bereitschaft, Menschen rücksichtslos und mit Selbstrechtfertigung zu schädigen. Auf Grundlage dieser Erkenntnis entwickelten die Forschenden ihren Fragebogen, indem sie einen Katalog aus rund 200 gängigen Fragen der Persönlichkeitsforschung schrittweise auf die Aussagen verdichteten, die besonders indikativ für den D-Faktor sind. Das Ergebnis ist eine ausführliche Version mit 70 Aussagen und eine Kurzversion mit 16 Aussagen.
Die Realität bestätigte die Messtheorie: Anhand von Daten des dänischen Bevölkerungsregisters konnten die Forschenden nachweisen, dass Menschen mit hohem D-Faktor häufiger für Straftaten verurteilt werden. „Auch großangelegte Studien und Experimenten belegen: Je höher der D-Faktor, desto eher zeigen Menschen tatsächlich sozial oder ethisch problematisches Verhalten“, berichtet der Forscher. „Beispielswiese logen Teilnehmende mit hohem D-Faktor in einem Experiment, bei dem Probanden verdeckt würfelten und für eine angebliche 6 zehn Euro erhielten, überdurchschnittlich oft, um das Geld zu erhalten. In anderen Studien verteilten sie Geldsummen zwischen sich und anderen Menschen zum eigenen Vorteil sehr viel unfairer oder verzichteten sogar auf ein wenig Geld, um anderen durch einen noch höheren Geldverlust noch mehr schaden zu können. Kurzum, auch der Messwert aus einem Fragebogen kann tatsächliches böses Verhalten vorhersagen.“
Vorsicht vor Pauschalurteilen
Der Online-Test liefert den Forschenden wertvolle Daten von Menschen rund um den Globus. Hinsichtlich deren Interpretation warnt Hilbig vor vorschnellen Schlüssen. „Ärmere Menschen sind nicht böser als reichere. Schlauere sind nicht böser als weniger Schlaue!“
Männer haben im Schnitt einen höheren D-Faktor als Frauen. „Aber das ist erstmal nur eine statistische Aussage. Es ist wie bei der Körpergröße. Männer sind im Schnitt größer als Frauen. Aber natürlich gibt es auch Frauen, die größer sind als viele Männer. Nicht alle Männer sind böse und alle Frauen nett. Außerdem haben solche Unterschiede in Fragebogendaten viel mit gesellschaftlichen Erwartungen und Rollenbildern zu tun, nicht nur mit Biologie.“
Die Daten zeigen auch, dass der D-Faktor im Alter sinkt. Eine mögliche Erklärung: Im Lebensverlauf ändert sich oft die soziale Rolle, viele müssen durch Elternschaft, Familie und Beruf mehr Verantwortung übernehmen. „Der D-Faktor nimmt bei allen ungefähr im gleichen Ausmaß ab“, sagt Hilbig. „Die relative Position im Vergleich zu anderen bleibt aber über viel Jahre ziemlich stabil.“
Länderunterschiede gibt es zwar, doch Hilbig betont, dass die Differenzen beispielsweise zwischen Männern und Frauen innerhalb eines Landes meist größer sind als die Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern oder Regionen. An Nationalität oder Herkunft lässt sich also nicht ablesen, wie „böse“ jemand ist. Aussagekräftiger seien vielmehr die jeweiligen gesellschaftlichen Umstände. „Wer mit Korruption, mangelnder Rechtsstaatlichkeit, Gewaltkriminalität und existenzieller Armut konfrontiert ist, braucht einen gewissen D-Faktor, um zu überleben.“ Wo widrige Umstände herrschen, der Fachbegriff dafür lautet aversive soziale Bedingungen, führe dies deshalb langfristig zu einem höheren durchschnittlichen D-Faktor.
Umfeld beeinflusst Persönlichkeit – und umgekehrt
Das Umfeld spielt also eine wichtige Rolle. „Wie jede Persönlichkeitseigenschaft ist der D-Faktor adaptiv, er kann sich anpassen. Das gilt besonders für die Durchschnittswerte einer Gesellschaft und über lange Zeiträume. Aber auch der individuelle D-Faktor eines Menschen ist veränderbar – aber nur im Rahmen der persönlichen Disposition“, erklärt Hilbig. „Ähnlich wie bei der Intelligenz kann ich durch Training und Förderung zwar schlauer werden, aber nur in einem gewissen Rahmen. Es gibt eben einen genetischen Anteil und das heißt: Wer einen niedrigeren IQ hat, wird auch mit dem besten Training selten zum Einstein.“
Umgekehrt beeinflusst die Persönlichkeit, in welchem Umfeld sich Menschen überhaupt wiederfinden, etwa in welchem Beruf. Die Daten, die bis jetzt den Forschenden vorliegen, belegen zwar nicht, dass hohe Werte vermehrt in Führungsetagen zu finden sind. Aus anderen Studien wisse man aber, dass Eigenschaften wie Narzissmus oder Machiavellismus, also manipulatives Machtstreben, in Machtpositionen häufiger vertreten sind, ordnet Hilbig ein.
„Es kommt sicher stark auf die Branche an. In sozialen Berufen wie in der Pflege ist der Anteil von Menschen mit hohem D-Faktor nachweislich geringer, vermutlich weil sich um andere zu kümmern für diese keine Priorität hat. Und wenn sie doch in im sozialen Bereich arbeiten, sind sie dort absehbar nicht sonderlich erfolgreich – in anderen Berufen kann man mit einer Neigung und Bereitschaft dazu, andere auszubeuten, sicher weiter kommen.“
Gute Zeiten für schlechte Menschen?
Wenn also Umfeld und Persönlichkeit einander bedingen, stellt sich die Frage: Was macht es mit uns, wenn Konflikte, Aggression und rücksichtsloses Verhalten allgegenwärtig sind? „Wenn prominente, mächtige Personen uns vorleben und spiegeln, dass ein hoher D-Faktor normal ist, dann erhöht das nach und nach den D-Faktor bei uns allen, wenn auch nicht bei allen gleich“, sagt Hilbig. „Der Mechanismus, dass wir uns die Mächtigen und Einflussreichen anschauen und ihr Verhalten imitieren, ist in uns als soziales Lernen tief verankert. Wir schauen schon als Kinder auf dem Schulhof, wer das Sagen hat und übernehmen entsprechendes Verhalten.“
Digitale Informationswelten befeuern das aus seiner Sicht. Denn auf Social Media sei – anders als im realen Leben – das Ausmaß potenzieller Verzerrung viel höher. „Ich kann mich in meiner Online-Welt komplett in eine Ecke manövrieren, in der ich nur noch das sehe, was mein Weltbild bestätigt. Und wenn dieses immer wieder verstärkte Weltbild mir sagt ´alle sind böse´ oder ´wir müssten nur diese oder jene Gruppen loswerden, dann ginge es uns besser´, dann verfestigen sich genau diejenigen Überzeugungen, die wesentlicher Teil des D-Faktors sind.“
Werkzeug zur Selbstreflexion
Eine verzerrte Wahrnehmung der Realität sei immer gefährlich, betont der Psychologieprofessor. „Weil ich dann beispielsweise falsch einschätze, welches Risiko andere Menschen für mich darstellen.“ Wer ständig gespiegelt bekomme, dass andere böse oder ausbeuterisch seien, werde misstrauisch und damit steige nicht nur der eigene D-Faktor. Eine solche Weltsicht macht auch unglücklich – mitunter sogar krank.
Neugierig auf den Test geworden? „Es ist immer hilfreich, sich im Vergleich zu anderen besser zu verstehen“, gibt Hilbig allen, die den Fragebogen ausfüllen möchten, mit auf den Weg. Und falls der Wert hoch ausfällt, bietet das Ergebnis vielleicht sogar eine wichtige Erkenntnis. „Wer überzeugt ist, dass andere ihn sowieso nur fertig machen wollen und er deshalb das Recht habe, sich rücksichtslos zu verhalten, ändert diese Einstellung vielleicht, wenn er erkennt: Die anderen sind gar nicht so böse. Die meisten sind eigentlich ganz nett.“
Du willst dich intensiver mit dem Thema beschäftigen? Hier gibt es weiterführende Literatur und Medienberichte zum D-Faktor:

Benjamin E. Hilbig, Morten Moshagen, Ingo Zettler: Dark Factor. Die Essenz des Bösen im Menschen. Pinguin-Verlag 2025.
Zettler, I., Lilleholt, L., Bader, M., Hilbig, B. E., & Moshagen, M. (2025). Aversive societal conditions explain differences in 'dark' personality across countries and US states. Proceedings of the National Academy of Sciences, 122, e2500830122.
Hilbig, B. E., Moshagen, M., Thielmann, I., & Zettler, I. (2022). Making rights from wrongs: The crucial role of beliefs and justifications for the expression of aversive personality. Journal of Experimental Psychology: General, 151, 2730–2755.
Moshagen, M., Hilbig, B. E., & Zettler, I. (2018). The dark core of personality. Psychological Review, 125, 656-688.
Podcast "Wissen Weekly" vom 30. Januar 2022: "Das Böse: Kann jeder Mensch zum Mörder werden?"
Süddeutsche Zeitung Magazin vom 4. September 2023: "Man findet sie entweder in der Führungsetage oder im Gefängnis"
Arte-Doku: Die Biografie des Bösen.

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