Bild
Sandsäcke sorgen für Schutz vor Hochwasser.
Eigentümer
© IMAGO / Future Image
Der Faktor Mensch in der Krise
Wenn das Wasser steigt, der Strom versagt oder Flammen sich ausbreiten, zählt jede Minute. Noch bevor Einsatzkräfte eintreffen, sind es die Menschen vor Ort, die handeln: Sie leisten Erste Hilfe, organisieren Essen, bringen Not-Infrastrukturen in Gang – und das ohne spezielle Ausbildung. Diese spontanen Helfer stehen auf keinem Einsatzplan und sind doch der entscheidende Faktor, wenn eine Katastrophe ganze Regionen lahmlegt. Für die Wissenschaft ist klar: Ohne den Faktor Mensch bleiben Katastrophenschutz und Katastrophenvorsorge unvollständig.
Bild
Erste-Hilfe-Einsatz im häuslichen Umfeld.
Eigentümer
© Matthias Rohs
Katastrophenschutz beginnt bei jedem einzelnen und der Kompetenz, sich in Ausnahmesituationen selbst zu helfen.
Bild
Die eigene Vorratshaltung kann im Katasrophenfall entscheidend. sein.
Eigentümer
© Matthias Rohs

Wenn’s ernst wird: Spontanhelfer und der Faktor Mensch im Katastrophenschutz

Katastrophen wie die Flut im Ahrtal 2021, Waldbrände oder extreme Hitzeperioden führen uns drastisch vor Augen, wie verletzlich unsere Gesellschaft in Krisensituationen ist. Das betrifft insbesondere schnelle Erste-Hilfe oder auch die Versorgung mit Lebensmitteln. Denn bevor der staatliche Katastrophenschutz am Krisenherd angelangt ist, die wichtigste Infrastruktur wieder in Gang gebracht und die am meisten Hilfebedürftigen versorgt hat, bleibt eine Zeit zu überbrücken, in der sich Menschen zunächst selbst helfen und organisieren müssen. Eine wichtige Rolle bei ersten Hilfemaßnahmen vor Ort spielen Menschen, die ohne konkrete Ausbildung kurzfristig notwendige Tätigkeiten zur Hilfeleistung übernehmen. Diese Spontanhelfer agieren meist außerhalb offizieller Einsatzpläne, aber sie leisten entscheidende Beiträge zur Bewältigung der Krisensituation.

„Um die Komplexität von Katastrophen zu verstehen, braucht es unterschiedliche fachliche Blickwinkel“, sagen Professorin Anja Danner-Schröder, Organisationswissenschaftlerin, und Professor Matthias Rohs, Bildungswissenschaftler. „Gerade weil wir fachfremd sind, sehen wir Dinge, die andere vielleicht übersehen“, betont Danner-Schröder. Ihre organisationstheoretische Perspektive bringt den Fokus auf Strukturen, Dynamiken und Konflikte, die in Ausnahmesituationen entstehen – insbesondere dort, wo etablierte Hierarchien auf selbstorganisierte Hilfe treffen.

Spontanhelfer als blinder Fleck

Ein zentrales Thema ihrer Forschung: die Rolle von Spontanhelfern in Krisensituationen. „Immer wieder zeigt sich, dass viele Menschen in Notlagen helfen wollen – etwa bei Hochwasserlagen, wo Anwohner spontan Sandsäcke schleppen und auf Deiche stapeln“, erzählt Danner-Schröder. „Viele dieser Helfer wollen einfach nur unterstützen, schaffen dabei aber unbeabsichtigt neue Gefahren. So wurden beispielsweise während vergangener Hochwassersituationen Sandsäcke oft so hoch und schwer aufgeschichtet, dass die zusätzliche Belastung die Stabilität der Deiche gefährdete.“ Diese Ambivalenz zwischen spontaner Hilfe aus der Bevölkerung und strukturierten Abläufen von Einsatzkräften, führe nicht selten zu Konflikten. Da erstere allerdings eine wichtige Ressource in der Katastrophenhilfe ist, müssen auf lange Sicht Lösungen gefunden werden, wie sich diese Form der Hilfestellung - trotz ihrer Dynamik und Unvorhersehbarkeit - in offizielle, strukturierte Katastrophenschutzpläne einbinden lässt.

Organisiert – aber ohne Hierarchie

Anja Danner-Schröder beschäftigt sich in ihrer Forschung intensiv mit Selbstorganisation, Protestbewegungen und digitalen Netzwerken – etwa im Rahmen ihrer Studien zu Fridays for Future. „Uns hat interessiert, wie diese Bewegung so effektiv agieren kann, obwohl sie sich bewusst gegen klassische Hierarchien stellt“, sagt sie. Viele der dort beobachteten Prinzipien – etwa horizontale Kommunikation, dezentrale Koordination und starke digitale Vernetzung – ließen sich auch bei Spontanhelfern beobachten. „Diese Akteure funktionieren außerhalb etablierter Strukturen, aber sie handeln effizient und zielgerichtet. Das ist kein Zufall, sondern ein Muster, das wir besser verstehen müssen.“

Für Danner-Schröder steht fest: Katastrophenschutz kann nicht mehr allein als Aufgabe des Staates verstanden werden. Es brauche eine Öffnung hin zur Zivilgesellschaft – nicht nur in Form von Ehrenamt in bestehenden Organisationen, sondern auch für kurzfristig aktivierte Netzwerke und Individuen.

Bildung für den Ernstfall

Matthias Rohs betont ebenfalls die Notwendigkeit, die Bevölkerung stärker als aktiven Teil der Krisenvorsorge zu begreifen. Als Bildungswissenschaftler beschäftigt er sich mit der Frage, wie Menschen lernen, sich selbst in Ausnahmesituationen zu helfen. „Die Bevölkerung geht oft davon aus, dass der Katastrophenschutz jedem einzelnen in Krisensituationen sofort mit Hilfe zur Seite steht. Das ist allerdings nicht der Fall. In der Katastrophenhilfe gibt es eine klare Hierarchie, wem und wo zuerst geholfen wird. Es kann also durchaus sein, dass die Zivilbevölkerung zunächst auf Hilfe warten muss. Dann spielt die Fähigkeit zur Selbsthilfe eine entscheidende Rolle.“

Das erweitert die Perspektive in der Forschung zum Katastrophenschutz und dem Krisenmanagement um die Frage: Wie kann der Einzelne selbst handlungsfähig bleiben – oder sogar andere unterstützen?“

Rohs erforscht, welche Kompetenzen notwendig sind, um in Krisensituationen sicher und verantwortungsbewusst zu handeln. Das beginnt bei Basisfähigkeiten wie der Ersten Hilfe, dem richtigen Verhalten bei Stromausfall oder Hochwasser und reicht bis zur Nutzung und Einschätzung von Informationen in sozialen Medien. Besonders Letzteres sieht er als wachsendes Problem: „In Katastrophenlagen verbreiten sich Fehlinformationen rasend schnell. Wer gelernt hat, Quellen zu prüfen und sich auf verlässliche Kanäle zu stützen, ist klar im Vorteil.“

Deshalb fordert Rohs, dass Katastrophenvorsorge stärker in die allgemeine Bildung integriert wird – nicht als Panikmache, sondern als Element von Selbstwirksamkeit. „Wir sollten Menschen befähigen, vorbereitet zu sein – etwa durch einfache, alltagsnahe Formate wie lokale Workshops, Planspiele oder digitale Lernangebote.“

Dabei gehe es nicht darum, die Aufgaben von Feuerwehr oder Technischem Hilfswerk zu übernehmen, sondern darum, überlebenswichtige Minuten zu überbrücken oder andere zu unterstützen – wenn es notwendig werden sollte.

Besonders wichtig sei dabei, auch vulnerable Gruppen in den Blick zu nehmen – etwa ältere Menschen, Menschen mit Behinderung oder Menschen ohne Zugang zu digitalen Medien. „Resilienz darf kein Privileg sein“, betont Rohs. Daher müsse Bildung in der Katastrophenvorsorge breit gedacht und breit gestreut werden – über Schulen, Vereine, Nachbarschaftsinitiativen oder Arbeitgeber.

Kompetenz zur Selbsthilfe stark ausbaufähig

Um herauszufinden, wie es um die Kompetenz zur Selbsthilfe der Bevölkerung in Krisensituationen steht, hat Rohs mit seinem Forschungsteam jüngst eine repräsentative Befragung über das Institut Allensbach in Auftrag gegeben. „Die Ergebnisse sind teilweise erschreckend. Über 50 Prozent der Bevölkerung könnte sich im Ernstfall einer Katastrophe nicht selbst helfen“, so Rohs.

Abgefragt wurden verschiedene Kompetenzbereiche von der Vorratshaltung über die technische Krisenvorsorge, wie beispielsweise einem batteriebetriebenen Radio oder ein Campingkocher, hin zu Grundkenntnissen in der medizinischen Selbstversorgung.

Das CIDR als Bindeglied zwischen Forschung und Praxis

Anja Danner-Schröder und Matthias Rohs haben sich mit Forschungskollegen im Center for Interdisciplinary Disaster Research (CIDR) zusammengeschlossen. Gemeinsam gehen sie Problemfelder des Katastrophenschutzes und des Krisenmanagements aus verschiedenen Blickwinkeln – Gesellschafts- und Bildungswissenschaften, Ingenieurwissenschaften, Psychologie und Verwaltungswissenschaft an.

Ein konkretes Projekt ist der Aufbau eines Kompetenznetzwerks für Spontanhelfer. Ziel ist es, lokale Netzwerke zu identifizieren, zu vernetzen und gemeinsam mit ihnen Wege zu finden, wie ihre Hilfe in künftigen Krisen effektiver eingebunden werden kann – ohne sie zu formalisieren oder zu vereinnahmen. „Wir wollen nicht die Spontanität ersticken, sondern Strukturen schaffen, in denen sie wirken kann“, sagt Danner-Schröder.

Resilienz ist Teamarbeit

Was beide Forschenden eint, ist die Überzeugung, dass Resilienz – also die Fähigkeit einer Gesellschaft, Krisen zu überstehen und daraus zu lernen – nicht nur auf staatlicher Ebene geschaffen werden kann. „Wir brauchen ein neues Verständnis von Verantwortung“, sagt Rohs. „Der Staat bleibt wichtig, aber die Bevölkerung ist kein reiner Empfänger von Hilfe. Sie ist Mitgestalterin.“

Für Danner-Schröder ist das auch eine Frage der Anerkennung: „Wenn wir wollen, dass Menschen sich einbringen, dann müssen wir ihnen auch zuhören – nicht erst nach der Krise, sondern vorher.“ Nur so könne Vertrauen entstehen – zwischen Staat und Bevölkerung, zwischen Einsatzkräften und freiwilligen Helfern.

Am Ende gehe es darum, die vorhandene Energie, das Engagement und die Fähigkeiten der Menschen ernst zu nehmen – nicht nur als Notlösung, sondern als festen Bestandteil des Katastrophenschutzes. Denn wenn’s ernst wird, zählt nicht nur Ausrüstung oder Infrastruktur – sondern vor allem der Faktor Mensch.

49
Prof. Dr.
Anja
Danner-Schröder
Professorin für Management der digitalen Transformation
„Mich fasziniert, wie Organisationen auf zunehmende Krisen reagieren – und wie Forschung hilft, Ursachen zu verstehen und Lösungen zu entwickeln.“
Anja Danner-Schröder ist Professorin für Management der digitalen Transformation. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit der Rolle von Digitalisierung in Organisationen, insbesondere wie künstliche Intelligenz und digitale Schnittstellen Routinen verändern und stabilisieren. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Analyse organisationaler Routinen in Krisen- und Extremsituationen, etwa während Naturkatastrophen, Pandemien oder in humanitären Krisen.
FORSCHERPROFIL AUF RPTU.DE
Prof. Dr.
Matthias
Rohs
Professor für Erwachsenenbildung
„Bildung ist zentral für den gesellschaftlichen Fortschritt, wie bei der Digitalisierung, und ebenso ihr Überleben, wie im Fall von Katastrophen.“
Matthias Rohs ist Professor für Erwachsenenbildung und wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Technologie und Arbeit (ITA). Er ist Co-Vorsitzender der Sektion Erwachsenenbildung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Zudem ist er Mitbegründer des Centre for Interdisciplinary Disaster Research (CIDR) und des Disaster and Climate Education Networks (DCEN). Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen digitale Bildung und Katastrophen.
FORSCHERPROFIL AUF RPTU.DE

Du willst tiefer ins Forschungsthema eintauchen?

Dann stöbere in den folgenden wissenschaftlichen Publikationen und Fachbeiträgen:

Lacher, S., & Rohs, M. (2023). Civil protection through adult and continuing education in Germany. A scoping review of an emerging research field. International Journal of Lifelong Education, 42(6), 532-549, DOI: 10.1080/02601370.2023.2263651
>> ZUR VERÖFFENTLICHUNG

Geiger, D., Danner-Schröder, A., Kremser, W. 2021. Getting ahead of time - Performing temporal boundaries to coordinate routines under temporal uncertainty, in: Administrative Science Quarterly, 66(1): 220-264, DOI: 10.1177/0001839220941010
>> ZUM PAPER

SWR Kultur, Online- und Audiobeitrag vom 24. März 2025, Mut zur Veränderung in Krisen
>> ZUM BEITRAG

EPALE - Elektronische Plattform für Erwachsenenbildung in Europa, Blogbeitrag "Wer sagt mir, was die Wahrheit ist?" (2024)
>> ZUM BLOGEINTRAG

//
von Miriam Tsolakidis
Die empirische Kulturwissenschaftlerin Miriam Tsolakidis bringt langjährige Erfahrung aus dem Bereich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit mit. Eine Geschichte so zu erzählen, dass sie genau des Pudels Kern trifft, ist Teil ihrer Begeisterung für jedes neue Thema. Neben dem Schreiben als freie Texterin für Unternehmen, Organisationen und Vereine ist sie heute als Nachhaltigkeitsmanagerin verantwortlich für die Enkeltauglichkeit in einem mittelständischen Unternehmen.

Diese Themen könnten dich auch interessieren: