

Smarte Batchprozesse für eine strompreisorientierte Produktion
Never change a running system? Für die meisten Unternehmen gilt das nicht mehr. Die Industrie steht vor einer großen Herausforderung: Ihr CO₂-Ausstoß muss drastisch sinken, gleichzeitig soll die Wettbewerbsfähigkeit gesichert bleiben – und das bei zuletzt stark gestiegenen Energiekosten. Allein die energiehungrige Chemiebranche verbraucht rund 50 Terawattstunden an elektrischer Energie pro Jahr. Das entspricht zehn Prozent des gesamten Strombedarfs in Deutschland. Und weil im Zuge der Abkehr von fossilen Energiequellen die Zeichen auf Elektrifizierung stehen, werden viele Unternehmen – auch kleine und mittelständische – in Zukunft noch wesentlich mehr Strom verbrauchen. Dabei treffen eingespielte Produktionsabläufe auf teils erheblich schwankende Energiepreise. Denn die Stromerzeugung hängt zunehmend an Wind und Sonne; also an Quellen, die nicht rund um die Uhr in gleichem Maße zur Verfügung stehen. Eine Produktion nach starren Plänen läuft Gefahr, gerade dann auf Hochtouren zu arbeiten, wenn der Strom am teuersten ist, anstatt von Niedrigpreisphasen zu profitieren.
Produktionsschritte mit unterschiedlichem Verbrauch
Erik von Harbou zeigt Wege auf, wie Betriebe ihre Abläufe flexibler gestalten können. Der Professor für Verfahrenstechnik ist der Sprecher des Projekts „Smarte Batchprozesse im Energiesystem der Zukunft“. Batchprozesse sind Produktionsverfahren, bei denen einzelne Arbeitsschritte nacheinander und genau aufeinander abgestimmt ablaufen müssen. Zum Beispiel Mischen, Erhitzen, Gären, Fermentieren, Reagieren und Filtrieren. Solche Verfahren finden sich in der Lebensmittelherstellung, in der chemischen und biotechnologischen Industrie und im Pharmabereich, etwa bei der Produktion medizinischer Wirkstoffe. „Einen Batchprozess kann man sich wie das Backen eines Kuchens nach Rezept vorstellen: Erst Teig anrühren, dann backen, dann abkühlen lassen“, erklärt von Harbou. „In der Industrie läuft das ähnlich ab, nur im großen Maßstab. Jeder dieser Schritte verbraucht unterschiedlich viel Strom, mal wenig, mal viel.“
Wissenschaft sorgt für Überblick
Bislang bestimmen meist Schichtplan, Anlagenverfügbarkeit oder Auftragslage, wann und wie eine Produktion abläuft. Ob Strom gerade günstig oder teuer ist, steht nicht im Vordergrund. Die Spanne möglicher Einflussfaktoren reicht von chemischen und technischen Prozessen über Personalplanung und Logistik bis zu Qualitätsanforderungen, Lieferfristen, Kundenwünschen und Zertifizierungsvorgaben. „Wir können natürlich nicht alles durchrechnen, was sich auf die Stromnutzung auswirkt“, sagt von Harbou. „Aber als universitäres Forschungsprojekt ist es unsere Stärke, in diesem Dickicht denkbarer Parameter die wichtigsten Strukturen zu erkennen, indem wir Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Disziplinen versammeln: aus der Verfahrenstechnik, Elektrotechnik, Chemie und Wirtschaftswissenschaften.“
„Manchmal hängt der Prozess schlichtweg daran, wann der LKW mit dem benötigten Material an der Fabrikhalle eintrifft. Viele Prozesse sind über Jahre perfektioniert und können nicht von heute auf morgen verändert werden, ohne dass die Qualität eines Produkts leidet“, betont Florian Sahling, Lehrstuhlinhaber für Produktionsmanagement, der eine betriebswirtschaftliche Perspektive beisteuert.
Preisvorhersagen per Algorithmus
Das Team hat unter anderem mehrere sogenannte Demonstratoren aufgebaut. Das sind Forschungsanlagen, die verschiedene Abläufe, wie sie auch in der Praxis vorkommen können, abbilden. Hier testen von Harbou und seine Kolleginnen und Kollegen beispielsweise, was passiert, wenn die Energiezufuhr während eines laufenden Fermentationsprozesses schwankt – und wie das Endprodukt trotzdem gelingt, zum Beispiel mit Hilfe von Enzymen, Bakterien oder Hefen, die robust gegenüber Temperaturschwankungen sind.
Das Team erarbeitet darüber hinaus technische Lösungen, wie Energie zwischengespeichert und einzelne Prozessphasen von einander entkoppelt werden können: Batterien, Wärmespeicher, die Hitze für spätere Prozessschritte bereithalten, oder sogenannte fluidische Speicher als Puffer für flüssige oder gasförmige Stoffe. Auch denken die Forschenden bereits mit, wie digitale Systeme zur Produktionsplanung dynamische Strompreise berücksichtigen könnten. Etwa per Algorithmen für automatisierte Preisprognosen, die in Form von praxistauglichen Planungstools Strompreise mit Anlagenverfügbarkeit und Rezepturen in Einklang bringen.
Forschende arbeiten mit Betrieben zusammen
„Wichtig für uns sind Denkanstöße von Menschen aus Betrieben, die uns sagen: Das geht, das geht nicht, darauf müsst Ihr schauen.“ Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler tauschen sich mit Vertretern verschiedener Branchen aus. Ein Industriebeirat mit Unternehmen aus der Region ist fester Teil des Projekts. Einige Betriebe nehmen Vorschläge der Forscher mit, andere teilen Erfahrungen aus eigenen Projekten. Mitarbeiter einer Gießerei berichteten etwa davon, wie sie das Schichtsystem neu organisierten, um Strompreisspitzen zu umschiffen.
Die überraschende Erkenntnis: Die Umstellung war bei Weitem nicht so kompliziert, wie befürchtet. „Und bei einem Schmierstoffhersteller wäre es zum Beispiel theoretisch denkbar gewesen, die Rezeptur leicht zu ändern, um Prozesse flexibler zu gestalten. Das Problem: Die Kunden akzeptieren nur die bisherige Rezeptur. Bei näherem Hinschauen hat sich aber gezeigt, dass es eine andere Möglichkeit gab: Die Kapazität des Kessels – mal halb, mal ganz voll – ließ sich relativ leicht anpassen, auch das ermöglichte flexibleres Arbeiten.“ Ein Anbieter für Smart-Grid-Lösungen unterstützt das Forschungsteam mit praktischer Erfahrung, wie Energieflüsse intelligent gesteuert werden können.
„In diesem Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis ergibt sich ein realistisches Bild davon, was funktionieren kann. Und es zeigt sich, dass gerade in kleineren Firmen verhältnismäßig unkomplizierte Schritte schon viel bewirken“, sagt von Harbou. „Bei großen Unternehmen ist die Entscheidungskette lang – bis man dort etwas testet, vergehen manchmal Jahre. Ein kleiner Betrieb kann manchmal eine Veränderung einfach in der nächsten Produktion ausprobieren. Gleichzeitig profitieren kleine Betriebe besonders von flexibleren Prozessen. Denn die Ressourcen für Investitionen in neue Technologien oder umfangreiche Umrüstungen zur Energieeinsparung sind meist begrenzt.“
Ampelsystem soll Orientierung bieten
Die gewonnenen Erkenntnisse und Methoden sollen in ein einfaches Orientierungssystem fließen, „eine Art Landkarte oder Ampelsystem, das auf einen Blick zeigt, wie gut sich ein Prozess flexibilisieren lässt. Grün heißt: geht einfach. Gelb: geht mit Anpassungen. Rot: ist schwierig. Also eine praktische Hilfestellung, die hilft, das eigene Produktionssystem besser einzuordnen und realistische Spielräume zu erkennen“, so von Harbou.
Den Takt überdenken
„Die Wissenschaft bietet Lösungen für eine strompreisorientierte Produktion. Unternehmen sollten aber dazu bereit sein, gewohnte Abläufe zu hinterfragen“, unterstreicht der Verfahrenstechnik-Experte. „Viele Abläufe folgen seit Jahrzehnten starren Takten – oft, weil es immer schon so gemacht wurde. Und es gibt Grundglaubenssätze wie ´Wer seine Maschinen nicht auslastet, macht was falsch´. Dabei zeigt unser Projekt: Wer es wagt, Gewohnheiten zu hinterfragen, kann in vielen Fällen Energie sparen, Kosten senken und trotzdem die Qualität halten.“


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Dann stöbere in den folgenden wissenschaftlichen Publikationen und Magazinbeiträgen:
Smarte Batchprozesse im Energiesystem der Zukunft: Zukunftsfähige Produktion: Smart und nachhaltig
D Görges, E von Harbou, M Kiehl, F Sahling, K Spraul - Ökologisches Wirtschaften, 2025
>> ZUM FACHBEITRAG
Harbou E von, Ryll O, Schrabback M, Bortz M, Hasse H (2017) Reactive Distillation in a Dividing-Wall Column: Model Development, Simulation, and Error Analysis. CIT 89:1315-1324.
>> ZUM ARTIKEL
Breit F, Zipp C, Weibel C, Harbou E von (2025) A quantitative evaluation of the prediction performance of a one-dimensional multifluid population balance model in continuous and semi-batch bubble columns. Chem Eng Res Des.
>> ZUR VERÖFFENTLICHUNG
Christian, J.; Sahling, F. (2024)
Carbon reduction in global supply network design subject to carbon tariffs and location-specific carbon policies, in: Sustainable Manufacturing and Service Economics (3), 100028.
>> ZUM PAPER
Sahling, F. (2016):
Integration of vendor selection into production and remanufacturing planning subject to emission constraints, in: International Journal of Production Research (54), S. 3822-3836.
>> ZUM ARTIKEL

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