



Wenn’s ernst wird: Spontanhelfer und der Faktor Mensch im Katastrophenschutz
„Um die Komplexität von Katastrophen zu verstehen, braucht es unterschiedliche fachliche Blickwinkel“, sagen Professorin Anja Danner-Schröder, Organisationswissenschaftlerin, und Professor Matthias Rohs, Bildungswissenschaftler. „Gerade weil wir fachfremd sind, sehen wir Dinge, die andere vielleicht übersehen“, betont Danner-Schröder. Ihre organisationstheoretische Perspektive bringt den Fokus auf Strukturen, Dynamiken und Konflikte, die in Ausnahmesituationen entstehen – insbesondere dort, wo etablierte Hierarchien auf selbstorganisierte Hilfe treffen.
Spontanhelfer als blinder Fleck
Ein zentrales Thema ihrer Forschung: die Rolle von Spontanhelfern in Krisensituationen. „Immer wieder zeigt sich, dass viele Menschen in Notlagen helfen wollen – etwa bei Hochwasserlagen, wo Anwohner spontan Sandsäcke schleppen und auf Deiche stapeln“, erzählt Danner-Schröder. „Viele dieser Helfer wollen einfach nur unterstützen, schaffen dabei aber unbeabsichtigt neue Gefahren. So wurden beispielsweise während vergangener Hochwassersituationen Sandsäcke oft so hoch und schwer aufgeschichtet, dass die zusätzliche Belastung die Stabilität der Deiche gefährdete.“ Diese Ambivalenz zwischen spontaner Hilfe aus der Bevölkerung und strukturierten Abläufen von Einsatzkräften, führe nicht selten zu Konflikten. Da erstere allerdings eine wichtige Ressource in der Katastrophenhilfe ist, müssen auf lange Sicht Lösungen gefunden werden, wie sich diese Form der Hilfestellung - trotz ihrer Dynamik und Unvorhersehbarkeit - in offizielle, strukturierte Katastrophenschutzpläne einbinden lässt.
Organisiert – aber ohne Hierarchie
Anja Danner-Schröder beschäftigt sich in ihrer Forschung intensiv mit Selbstorganisation, Protestbewegungen und digitalen Netzwerken – etwa im Rahmen ihrer Studien zu Fridays for Future. „Uns hat interessiert, wie diese Bewegung so effektiv agieren kann, obwohl sie sich bewusst gegen klassische Hierarchien stellt“, sagt sie. Viele der dort beobachteten Prinzipien – etwa horizontale Kommunikation, dezentrale Koordination und starke digitale Vernetzung – ließen sich auch bei Spontanhelfern beobachten. „Diese Akteure funktionieren außerhalb etablierter Strukturen, aber sie handeln effizient und zielgerichtet. Das ist kein Zufall, sondern ein Muster, das wir besser verstehen müssen.“
Für Danner-Schröder steht fest: Katastrophenschutz kann nicht mehr allein als Aufgabe des Staates verstanden werden. Es brauche eine Öffnung hin zur Zivilgesellschaft – nicht nur in Form von Ehrenamt in bestehenden Organisationen, sondern auch für kurzfristig aktivierte Netzwerke und Individuen.
Bildung für den Ernstfall
Matthias Rohs betont ebenfalls die Notwendigkeit, die Bevölkerung stärker als aktiven Teil der Krisenvorsorge zu begreifen. Als Bildungswissenschaftler beschäftigt er sich mit der Frage, wie Menschen lernen, sich selbst in Ausnahmesituationen zu helfen. „Die Bevölkerung geht oft davon aus, dass der Katastrophenschutz jedem einzelnen in Krisensituationen sofort mit Hilfe zur Seite steht. Das ist allerdings nicht der Fall. In der Katastrophenhilfe gibt es eine klare Hierarchie, wem und wo zuerst geholfen wird. Es kann also durchaus sein, dass die Zivilbevölkerung zunächst auf Hilfe warten muss. Dann spielt die Fähigkeit zur Selbsthilfe eine entscheidende Rolle.“
Das erweitert die Perspektive in der Forschung zum Katastrophenschutz und dem Krisenmanagement um die Frage: Wie kann der Einzelne selbst handlungsfähig bleiben – oder sogar andere unterstützen?“
Rohs erforscht, welche Kompetenzen notwendig sind, um in Krisensituationen sicher und verantwortungsbewusst zu handeln. Das beginnt bei Basisfähigkeiten wie der Ersten Hilfe, dem richtigen Verhalten bei Stromausfall oder Hochwasser und reicht bis zur Nutzung und Einschätzung von Informationen in sozialen Medien. Besonders Letzteres sieht er als wachsendes Problem: „In Katastrophenlagen verbreiten sich Fehlinformationen rasend schnell. Wer gelernt hat, Quellen zu prüfen und sich auf verlässliche Kanäle zu stützen, ist klar im Vorteil.“
Deshalb fordert Rohs, dass Katastrophenvorsorge stärker in die allgemeine Bildung integriert wird – nicht als Panikmache, sondern als Element von Selbstwirksamkeit. „Wir sollten Menschen befähigen, vorbereitet zu sein – etwa durch einfache, alltagsnahe Formate wie lokale Workshops, Planspiele oder digitale Lernangebote.“
Dabei gehe es nicht darum, die Aufgaben von Feuerwehr oder Technischem Hilfswerk zu übernehmen, sondern darum, überlebenswichtige Minuten zu überbrücken oder andere zu unterstützen – wenn es notwendig werden sollte.
Besonders wichtig sei dabei, auch vulnerable Gruppen in den Blick zu nehmen – etwa ältere Menschen, Menschen mit Behinderung oder Menschen ohne Zugang zu digitalen Medien. „Resilienz darf kein Privileg sein“, betont Rohs. Daher müsse Bildung in der Katastrophenvorsorge breit gedacht und breit gestreut werden – über Schulen, Vereine, Nachbarschaftsinitiativen oder Arbeitgeber.
Kompetenz zur Selbsthilfe stark ausbaufähig
Um herauszufinden, wie es um die Kompetenz zur Selbsthilfe der Bevölkerung in Krisensituationen steht, hat Rohs mit seinem Forschungsteam jüngst eine repräsentative Befragung über das Institut Allensbach in Auftrag gegeben. „Die Ergebnisse sind teilweise erschreckend. Über 50 Prozent der Bevölkerung könnte sich im Ernstfall einer Katastrophe nicht selbst helfen“, so Rohs.
Abgefragt wurden verschiedene Kompetenzbereiche von der Vorratshaltung über die technische Krisenvorsorge, wie beispielsweise einem batteriebetriebenen Radio oder ein Campingkocher, hin zu Grundkenntnissen in der medizinischen Selbstversorgung.
Das CIDR als Bindeglied zwischen Forschung und Praxis
Anja Danner-Schröder und Matthias Rohs haben sich mit Forschungskollegen im Center for Interdisciplinary Disaster Research (CIDR) zusammengeschlossen. Gemeinsam gehen sie Problemfelder des Katastrophenschutzes und des Krisenmanagements aus verschiedenen Blickwinkeln – Gesellschafts- und Bildungswissenschaften, Ingenieurwissenschaften, Psychologie und Verwaltungswissenschaft an.
Ein konkretes Projekt ist der Aufbau eines Kompetenznetzwerks für Spontanhelfer. Ziel ist es, lokale Netzwerke zu identifizieren, zu vernetzen und gemeinsam mit ihnen Wege zu finden, wie ihre Hilfe in künftigen Krisen effektiver eingebunden werden kann – ohne sie zu formalisieren oder zu vereinnahmen. „Wir wollen nicht die Spontanität ersticken, sondern Strukturen schaffen, in denen sie wirken kann“, sagt Danner-Schröder.
Resilienz ist Teamarbeit
Was beide Forschenden eint, ist die Überzeugung, dass Resilienz – also die Fähigkeit einer Gesellschaft, Krisen zu überstehen und daraus zu lernen – nicht nur auf staatlicher Ebene geschaffen werden kann. „Wir brauchen ein neues Verständnis von Verantwortung“, sagt Rohs. „Der Staat bleibt wichtig, aber die Bevölkerung ist kein reiner Empfänger von Hilfe. Sie ist Mitgestalterin.“
Für Danner-Schröder ist das auch eine Frage der Anerkennung: „Wenn wir wollen, dass Menschen sich einbringen, dann müssen wir ihnen auch zuhören – nicht erst nach der Krise, sondern vorher.“ Nur so könne Vertrauen entstehen – zwischen Staat und Bevölkerung, zwischen Einsatzkräften und freiwilligen Helfern.
Am Ende gehe es darum, die vorhandene Energie, das Engagement und die Fähigkeiten der Menschen ernst zu nehmen – nicht nur als Notlösung, sondern als festen Bestandteil des Katastrophenschutzes. Denn wenn’s ernst wird, zählt nicht nur Ausrüstung oder Infrastruktur – sondern vor allem der Faktor Mensch.


Du willst tiefer ins Forschungsthema eintauchen?
Dann stöbere in den folgenden wissenschaftlichen Publikationen und Fachbeiträgen:
Lacher, S., & Rohs, M. (2023). Civil protection through adult and continuing education in Germany. A scoping review of an emerging research field. International Journal of Lifelong Education, 42(6), 532-549, DOI: 10.1080/02601370.2023.2263651
>> ZUR VERÖFFENTLICHUNG
Geiger, D., Danner-Schröder, A., Kremser, W. 2021. Getting ahead of time - Performing temporal boundaries to coordinate routines under temporal uncertainty, in: Administrative Science Quarterly, 66(1): 220-264, DOI: 10.1177/0001839220941010
>> ZUM PAPER
SWR Kultur, Online- und Audiobeitrag vom 24. März 2025, Mut zur Veränderung in Krisen
>> ZUM BEITRAG
EPALE - Elektronische Plattform für Erwachsenenbildung in Europa, Blogbeitrag "Wer sagt mir, was die Wahrheit ist?" (2024)
>> ZUM BLOGEINTRAG

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