

Warum der frühe Kontakt zu anderen Sprachen nur Vorteile hat
In unseren Bildungsinstitutionen gilt Deutsch als die Sprache, in der Lerninhalte vermittelt werden – und in der miteinander über diese Lerninhalte kommuniziert wird. Zugleich sollen alle Lernenden ihre deutschsprachigen Fähigkeiten immer weiter ausbauen – und zwar von der Kita bis meist zur Hochschule. Gleichzeitig leben in Deutschland etwa 21,2 Millionen Menschen mit Einwanderungsgeschichte, wie etwa das Statistische Bundesamt in einer Mitteilung von Mai 2025 bekannt gibt. Obwohl Deutsch in der Mehrheit der Familien mit Einwanderungsgeschichte eine wichtige Rolle spielt, wird in der Hälfte von ihnen mindestens noch eine weitere Sprache praktiziert.
„Das ist kein Manko, sondern eine Riesenressource, die leider allzu oft ungenutzt bleibt“, unterstreicht Professorin Anja Wildemann. Gemeinsam mit ihrem Team widmet sie sich unter anderem der Metalinguistic Awareness, im Deutschen auch Sprachbewusstheit genannt. Vereinfacht gesagt sei dies, „die mentale Fähigkeit, über Sprache und Sprachen nachzudenken, deren Form, Struktur und Gebrauch zu reflektieren und bewusst zu nutzen“. Es geht also um das Wissen über Sprache – und die Nutzung dieses Wissens. „Dazu gehört zum Beispiel die Frage, warum sich Satzstrukturen unterscheiden oder auch die Frage, welche Wörter in welcher Situation wie genutzt werden.“
Denn was dem einen oder anderen beispielsweise nicht bewusst sein mag: Die deutsche Sprache hält einige Besonderheiten bereit, die Muttersprachlerinnen und Muttersprachler in der Regel im Zuge ihres Spracherwerbs automatisch verinnerlichen. Besonderheiten allerdings, die von Lernenden, die sich Deutsch als ihre zweite, dritte oder vierte Sprache aneignen, mehr Aufmerksamkeit verlangen: „Das Brot einkaufen“ wird in einer anderen Satzkonstellation zu „Morgen kaufe ich das Brot ein“. Trennbare Verben – in fast allen anderen Sprachen wird man sie nicht finden. „Das ist nur ein Beispiel für die Besonderheiten der deutschen Sprache, die man durch den Vergleich von Sprachen ins Bewusstsein der Lernenden rücken kann“, ordnet Anja Wildemann ein.
Sprachbewusstheit in Grundschulen
Wie es um die Sprachbewusstheit von Schülerinnen und Schülern steht – und wie sich diese fördern lässt, will das Forschungsteam um Wildemann genauer wissen. Dabei gehen sie der Frage nach, wie sich das Vorhandensein von mehreren Sprachen für das Lernen nutzen lässt. In verschiedenen Forschungsprojekten haben sie dazu mit Grundschülerinnen und Grundschülern sogenannte metasprachliche Gespräche geführt: „Das heißt, mithilfe mehrsprachiger, kurzer Texte wurden die Schülerinnen und Schüler durch gezielte Fragen angeregt, über Sprachen zu sprechen, also metasprachlich zu handeln.“ Eine Frage an die Schülerinnen und Schüler war, warum Sätze im Deutschen häufig aus mehr Wörtern bestehen als in anderen Sprachen.
Anja Wildemann: „Die Kinder haben dazu subjektive Vorstellungen, die wir als Präkonzepte bezeichnen. Im Laufe der Schulzeit verändern sich durch den Lernzuwachs diese frühen, teilweise naiven Konzepte immer mehr zu sogenannten wissenschaftlichen Konzepten. In diesem Übergang gibt es auch das, was wir in der Forschung als Zwischenkonzepte bezeichnen. Es findet ein Konzeptwandel statt – ein Conceptual Change. In der naturwissenschaftlich-didaktischen und mathematikdidaktischen Forschung ist Conceptual Change ein gut erforschter Erklärungsansatz für die Veränderung von Wissensstrukturen. Für die sprachdidaktische Forschung ist dieser Ansatz bislang kaum erforscht. Ich habe hier Brachland betreten“, schildert die Professorin die Besonderheit ihrer Forschung.
Kompetenz Sprachanalyse – bei mehrsprachigen Kindern ausgeprägter
In Untersuchungen haben Wildemann und ihr Team deutschsprachige und mehrsprachige Kinder miteinander verglichen. Dabei kam heraus: Mehrsprachige Kinder äußern sich im Schnitt metasprachlich auf einem höheren Niveau. So haben Kinder, die mit der deutschen und der türkischen Sprache vertraut sind, etwa feststellen können, dass im Deutschen für einen Artikel und ein Nomen zwei Wörter verwendet werden (z. B. das Haus), das Türkische aber ohne Artikel auskommt (ev).
Beim Plural ändert sich im Deutschen der Artikel gemäß dem Genus, dem grammatischen Geschlecht und der Flexion, also der Form des Hauptwortes (die Häuser), im Türkischen wird der Plural durch die Wortendung -ler markiert (evler). Anja Wildemann: „Während das Deutsche eine flektierende Sprache ist, ist das Türkische eine agglutinierende Sprache, die Wortteile aneinanderreiht.“ Das sei eine Erklärung, weshalb Sätze im Türkischen weniger Wörter als im Deutschen aufweisen. „Solche Kompetenzen im Bereich der Sprachanalyse waren bei mehrsprachigen Kindern – im Vergleich zu einsprachigen Kindern – meist besser ausgeprägt.“ Längst sei insgesamt aus der Forschung bekannt, betont die Wissenschaftlerin: „Je früher Sprachen erworben werden, desto besser ist die neuronale Vernetzung und umso erfolgreicher vollzieht sich der Sprach(en)erwerb.“ Auch das Hinzukommen weiterer Fremdsprachen ist bei frühen Mehrsprachigen einfacher als bei denjenigen, die erst später mit weiteren Sprachen in Kontakt kommen. „Später heißt übrigens, nach dem sechsten Lebensjahr“, betont die Professorin.
„Je früher Sprachen erworben werden, desto besser ist die neuronale Vernetzung und umso erfolgreicher vollzieht sich der Sprach(en)erwerb.“
Anja Wildemann
Ihre Studien haben darüber hinaus gezeigt, ergänzt Anja Wildemann, dass sich die Sprachbewusstheit von einsprachigen Schülerinnen und Schülern erhöht – also von Kindern, die bislang nur Deutsch sprechen – wenn sie im Unterricht mit anderen Sprachen in Kontakt kommen, beispielsweise durch Sprachvergleiche. „Es lohnt sich also, die Sprachen mehrsprachiger Mitschülerinnen und -schüler in den Unterricht einzubeziehen, da alle davon profitieren“, bekräftigt die Forscherin.
Vorteil für das weitere Lesen- und Schreibenlernen
Anja Wildemanns Fokussierung auf Sprachbewusstheit kommt nicht von ungefähr: Denn die damit einhergehenden Fertigkeiten und Fähigkeiten wirken sich insgesamt positiv aus, wenn es darum geht, Lesen, Schreiben und auch Sprechen zu lernen. Tatsächlich gilt die Förderung von Sprachkompetenzen und Sprachbewusstheit als eine der zentralen Aufgaben des Deutschunterrichts in der Grundschule. Sprachvergleiche werden von der Kultusministerkonferenz empfohlen. „Mehrsprachigkeit im Unterricht ist ein Gewinn, der bereits in der Primarstufe genutzt werden kann“, sagt die Wissenschaftlerin. Und: „Kinder in der Grundschule zeigen große Neugierde für Sprachen.“
Andere Sprachen an den Deutschunterricht ankoppeln
Doch wie ließe sich das im Schulalltag realisieren? Andere Sprachen könnten an den Deutschunterricht angekoppelt werden. Sie ließen sich – in angeleiteten Situationen – zur Reflexion und zur Sprachanalyse einsetzen: „Dabei können mehrsprachige Bilderbücher eine Hilfe sein.“ Auch ließen sich Gegenstände im Klassenraum mehrsprachig beschriften. „Es geht darum, Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Sprachen zu erkennen“, fasst die Professorin zusammen.
Die Einbindung verschiedener Sprachen in den Deutschunterricht ist aber nicht nur für die Lernenden gewinnbringend, sondern auch eine mögliche Hilfe für Lehrkräfte: „Sie können auf diese Weise besser verstehen, warum mehrsprachige Lernende beispielsweise bestimmte Fehler machen.“ Für Lehrkräfte, die auf der Suche nach Materialien sind, hat Anja Wildemann daher zusammen mit Lena Bien-Miller (JGU Gießen) die Homepage „Deutsch unterrichten – mit Lingo und Parla“ ins Leben gerufen. Hier finden Lehrkräfte neben Sprachsteckbriefen, kostenloses Material. Ganz aktuell entwickelt das Team um Wildemann ein Diagnoseinstrument für die Kita im Rahmen des Projektes „Sprache im Alltag beobachten (SiAb)“: Erarbeitet wird ein Beobachtungsverfahren, welches Pädagogische Fachkräfte systematisch alltagsintegriert anwenden können, um die sprachliche Entwicklung ein- und mehrsprachiger Kinder zu erfassen und daraus Unterstützungs- und Förderangebote abzuleiten. Im Projekt „FirstClass – erstklassig starten“ wiederum wird die Förderung zum Schulanfang in 60 Grundschulen in Rheinland-Pfalz begleitet.
„Je früher Kinder mit anderen Sprachen in Kontakt kommen, umso besser“, zieht Anja Wildemann als Fazit aus ihrer Forschung. Die gesellschaftliche und individuelle Mehrsprachigkeit dürfe an den Schulen nicht Halt machen. „Sprachverbote und Deutschgebote sind nicht hilfreich, sie schränken Lernende in ihrer kognitiv-sprachlichen Entwicklung und Identitätsbildung ein. Nur wer sein Potenzial vollumfänglich nutzen kann, kann sich auch im Deutschen gut entwickeln.“

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Weiterführende Informationen gibt es in der Auswahl an wissenschaftlicher Literatur:
Wildemann, A. (2023). Conceptual Change und sprachbezogene Konzepte – eine theoretische Annäherung. Empirische Pädagogik 4/23, 366-380. (Grundlagenbeitrag)
Wildemann, A. (2024). Vergleich macht glücklich - und wissend. Durch Sprachvergleich metasprachliches Wissen erlangen. Deutsch 5-10. Mehrsprachigkeit. Ausgabe 81/2024,18-25.
>> ZUM PRAXISBEITRAG
Wildemann, A. & Kellermann, K. (2025). Conceptual Change and Causal Relations. Ontological and epistemological basic concepts within the conceptual change approach using the example of causal relations. Pedagogical Linguistics. DOI: 10.1075/pl.24020.wil (Forschungsbeitrag)

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