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An ambulance on its way to an emergency call
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© IMAGO / Maximilian Koch
Mathematics save lives
Sven Oliver Krumke's goal is to use mathematical methods to optimize the organization of emergency medical services. He also employs artificial intelligence, which is constantly learning.
Bei einem medizinischen Notfall ist oft Zeit der entscheidende Faktor. Je schneller der Rettungswagen am Einsatzort ist, desto besser.

Jede Minute zählt: Entscheidungshilfe für die Notversorgungs-Planer 

Die Notarztversorgung steht unter enormem Kostendruck. Daher entwickelt Professor Sven Oliver Krumke mit seinem Team Simulationsmodelle, die dabei helfen, die Arbeit der Rettungswachen in einem Gebiet auch unter schwierigen Bedingungen optimal zu koordinieren. Dafür kommt auch Künstliche Intelligenz zum Einsatz – und die lernt sogar, dass nicht immer der Wagen losfahren sollte, der am schnellsten da ist.

Mathematische Optimierung – das klingt nach etwas sehr Abstraktem. Und äußerlich wirkt sie auch so: Man hat Gleichungen und Ungleichungen mit vielen Variablen vor sich, die auch dann noch ganzzahlige Werte annehmen sollen. Hinter den Lösungsmethoden stecken jedoch praktische Verfahren, die in vielen Alltagsbereichen anwendbar sind. Beim Optimieren geht es darum, eine Zielfunktion unter den vorgegebenen Bedingungen (den sogenannten Nebenbedingungen) zu minimieren oder zu maximieren. Was nichts anderes heißt, als die bestmögliche Lösung für ein Problem zu finden. Manchmal will man schließlich möglichst viel von etwas haben – das ist die Maximierung. Manchmal will man möglichst wenig von etwas haben – das ist die Minimierung.

In einem Logistikunternehmen ist das Packungsproblem allgegenwärtig. Gegeben sind zum Beispiel Getränkekisten einer bestimmten Größe, die in möglichst wenigen Container gestapelt werden sollen, um die Kosten für den Transport zu senken. Die Zielfunktion ist die Anzahl Container, die benötigt werden, um alle Kisten von A nach B zu bringen. Die Nebenbedingung lautet: In jeden Container können nur so viele Kisten gepackt werden wie hineinpassen. Logisch! Ums Maximieren geht es wiederum beim Design einer Windturbine – die soll ja möglichst viel Strom erzeugen. Das Design lässt sich über die Parameter Durchmesser, Länge, Geometrie der Flügel und so weiter beschreiben. Eine typische Zielfunktion in diesem Beispiel ist der Wirkungsgrad der Turbine, das heißt die Energiegewinnung bei einem bestimmten gegebenen Luftstrom.

Notversorgung leidet unter Kostendruck

Mathematische Optimierung leistet aber nicht nur bei Logistik und Energieerzeugung gute Dienste, sondern auch im Gesundheitswesen. Der Mathematiker Sven Oliver Krumke wendet die Technik an, um die notärztliche Versorgung zu verbessern. Hat jemand einen Herzinfarkt oder passiert ein Autounfall, werden die Notärzte in einer nah gelegenen Rettungswache alarmiert. Sie springen in den Rettungswagen und fahren los. Leider steht es um die Notarztversorgung hierzulande nicht immer zum Besten. „Das Grundproblem ist der stetig steigende Kostendruck im Gesundheitswesen“, erklärt Krumke. Dadurch werden die finanziellen Mittel für die Notfallversorgung knapper und knapper. Also gilt es, alles so gut zu organisieren, wie es die Umstände zulassen. Eine klassische Optimierungsaufgabe, an der Krumke seit 2021 im Rahmen des Projekts ONEPlan arbeitet, welches vom rheinland-pfälzischen Ministerium des Inneren und für Sport gefördert wird. Schon in einem Vorgängerprojekt hatten Krumke und sein Team jahrelang am Notarztproblem geforscht.

Mathematisch lässt es sich vereinfacht so skizzieren: Gegeben sind viele Regionen „r" und mehrere Rettungswachen an den Standorten „s1, s2“ und so weiter. Von dort aus sollen die Notärzte innerhalb einer Frist von zum Beispiel 20 Minuten am Einsatzort sein können. Weil die finanziellen Mittel knapp sind, müssen möglichst wenige Notärzte auf die Rettungswachen verteilt werden – das ist die Zielfunktion: die Anzahl der Notärzte. Hinzu kommen die Nebenbedingungen. Es muss eine Mindestanzahl Notärzte geben – so viele, wie für die statistisch erwartbaren Notfälle gebraucht werden. Diese Mindestanzahl wird als „b" bezeichnet. Zudem sollen jedem Notarzt maximal „q“ Notfälle zugewiesen werden – so viele, wie er bewältigen kann.

Kommazahlen gehen nicht

Was beim Notarztproblem herauskommen muss, sind ganzzahlige Ergebnisse. „Das heißt, die Anzahl Notärzte in den Standorten muss eine ganze Zahl sein – 2, 3 oder 4", so Krumke. „Einem Standort 2,31 Notärzte zuzuweisen, wäre ja sinnlos.“ Zweites Merkmal: Es handelt sich um ein lineares Problem. In den Nebenbedingungen treten die Variablen also nur linear auf – nichtlineare mathematische Größen wie Quadrate oder Logarithmen gibt es nicht. Anders als bei der Turbine, bei der es zur Beschreibung des Luftdrucks und der Strömung nichtlineare Terme braucht.

In die Gleichungen müssen zudem Unsicherheiten eingebaut werden, in diesem Fall die tatsächliche Zahl von Notfällen pro Region zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft. „Diese Zahl können wir nicht mit hundertprozentiger Sicherheit angeben. Wir können aber historischen Daten nehmen, zum Beispiel den Mittelwert der letzten zwei bis drei Jahre. Und damit eine Schätzung abgeben.“ Herauskommt ein Intervall, also ein Bereich, innerhalb dessen Grenzen die tatsächliche Anzahl der Notfälle in der Region sicher liegt. Dieses Intervall wird über sogenannte Unsicherheitsmengenin die Gleichungen eingebaut – noch ein paar Variablen, die man braucht. Das macht es natürlich mathematisch schwieriger, aber auch viel realistischer.

Modell vereinfacht die Wirklichkeit

Doch wie hilft diese ganzzahlige, lineare Optimierung nun konkret, die Notfallversorgung zu verbessern? Dafür entwickelt Krumke auf den Optimierungen aufbauende Simulationsmodelle, so etwas wie virtuelle Abbilder der realen Notfallversorgung in einer Region unter bestimmten Bedingungen. „Im Prinzip sind diese Simulationen eine Vereinfachung der Wirklichkeit", so Krumke. Am Computer wird jedes einzelne Rettungsfahrzeug und jeder einzelne Notfall in einem Straßennetzwerk realitätsnah abgebildet. Trifft die Notfallmeldung ein, fährt ein virtuelles Rettungsfahrzeug los. In die Simulation eingewoben sind „echte" Fahrtzeiten von bekannten Strecken. Damit diese die Wirklichkeit möglichst genau abbilden, berücksichtigt das Modell Parameter wie Streckenbelag, Steigungen sowie Jahres- und Tageszeit. Denn das alles beeinflusst den Einsatz. Geht der Notruf um 16 Uhr ein, könnte zum Beispiel der Feierabendverkehr die Fahrtzeit verlängern.

Zusätzlich ist im Simulationsmodell Künstliche Intelligenz (KI) am Werk. Genauer Machine Learning, ein Teilbereich der KI. Damit lassen sich gut Vorhersagen treffen. Die KI sagt zum Beispiel voraus, wie viele Notfälle in den nächsten 48 Stunden in einer bestimmten Region auftreten werden. Eine notwendige Hilfestellung, so Krumke. „Es geht ja darum, auf Basis unvollständiger Informationen Entscheidungen über die künftige Besetzung von Rettungswachen zu treffen.“ Auch fiktive Szenarien rechnet das Simulationsmodell ein. Zum Beispiel nimmt es an, dass die Zahl der Notfälle in den nächsten fünf Jahren um 10 Prozent steigt.

Fast eine halbe Million Menschen

So ein Modell ist sehr realitätsnah, und das muss es auch sein. Denn es wird von denjenigen als Entscheidungshilfe genutzt, die die Notversorgung in einem Gebiet jeden Tag von Neuem koordinieren und organisieren: den Disponenten in den Leitstellen. Rheinland-Pfalz hat sieben „Rettungsdienstbereiche“, und für jeden ist eine Leitstelle zuständig. Die Leitstelle in Landau etwa steuert die notärztliche Versorgung im Bereich „Südpfalz“. Der reicht in Ost-West-Richtung von Wörth am Rhein bis Zweibrücken in der Westpfalz, umfasst 2270 Quadratkilometer und hat rund 460.000 Einwohner plus Touristen.

In der Leitstelle Landau gehören die Simulationen schon zum technischen Inventar und werden regelmäßig zu Rate gezogen. Die Planer lassen die Simulation durchlaufen und bekommen als Ergebnis konkrete Vorschläge, wie sie die „Rettungsmittel“ (Wagen und Ärzte) anders einteilen könnten als bisher. Zu sehen ist dann auch, was sich dadurch verbessert. Ein Beispiel: Fährt der Rettungswagen am späten Nachmittag von der Rettungswache in Germersheim los, braucht er nicht mehr 12 Minuten, sondern nur noch 10 Minuten ins nahe gelegene Dorf Knittelsheim. Gerät dort ein Mensch in Not, zählt ja jede Minute. Dann ist die Hilfe zwei Minuten früher da. Die Simulation zeigt auch an, zu welchen Tageszeiten welche Besetzung sinnvoll ist. Auf einer Rettungswache werden zum Beispiel von 8 bis 12 Uhr mittags zwei Notärzte benötigt. Zwischen 12 und 20 Uhr abends ist es ruhiger: Da reicht ein Arzt. Aufgrund solcher datenbasierten Empfehlungen können die Disponenten dann die Schichtpläne umstellen.

Was tun, wenn eine Wache gestrichen wird?

Der entscheidende Punkt bei den Simulationen ist folgender: Sie verbessern die Notfallversorgung, ohne dass dafür die Zahl der Notärzte erhöht werden müsste. „Natürlich ließe sich eine bessere Versorgung leichter mit mehr Ärzten und mehr Rettungswachen auf die Beine stellen – aber das ist wegen des Kostendrucks meist nicht möglich.“ Die Simulationen zeigen zudem, was zu tun ist, wenn sich die Rahmenbedingungen mal verändern, zum Guten oder Schlechten. Wo eine neue zusätzliche Rettungswache hinkommen müsste, falls doch wider Erwarten das Geld dafür da wäre. Andersherum: Muss eine Rettungswache aus finanziellen Gründen geschlossen werden, meldet die Simulation: Bei dieser Wache wären die Auswirkungen am geringsten.

Perfekt sind die KI-gestützten Modelle noch nicht. „Wir entwickeln sie ständig weiter, bauen neue Aspekte ein und verbessern kontinuierlich die Simulation.“ Aktuell arbeitet Krumke daran, die Stärken von klassischer Optimierung und KI zu verschmelzen. Die KI kann zwar sehr gut Vorhersagen treffen, schwächelt aber, wenn es darum geht, auf den Vorhersagen basierend Entscheidungen zu fällen. Also zu bestimmen, welche Einsatzmittel verwendet werden sollten. Da ist die Optimierung überlegen.

Eine Frage der Abwägung

Krumke erklärt, warum er die Simulationen in diesem Punkt weiterentwickeln will: Einem Notfall muss in der operativen Praxis ja sofort ein Rettungswagen zugewiesen werden. Da ist keine Zeit zu verlieren. Eine zentrale Frage ist, welcher Rettungswagen dann losfährt. Der Wagen von Rettungswache A, weil er am schnellsten am Einsatzort eintreffen könnte? Eine allein den Faktor Zeit berücksichtigende Entscheidung ist nicht immer optimal. Sofern es bei dem Notfall nicht auf jede Minute ankommt, könnte es besser sein, den Wagen von Rettungswache B loszuschicken, auch wenn er etwas länger braucht. Der Grund: Auf der Notfallversorgungs-Landkarte gibt es immer Lücken – und die müssen möglichst klein gehalten werden, weil ja jeden Moment weitere Notfallmeldungen eingehen können. Fährt der „zweitschnellste" Rettungswagen los, sind diese Lücken manchmal einfacher zu schließen.

„Wir haben es mit einem komplexen System zu tun, in dem alles mit allem zusammenhängt. Wenn man an einer Rettungswache etwas ändert, beeinflusst das mitunter sehr viele andere Rettungswachen. Das ist wie ein Welleneffekt. Entscheidungen dürfen also nicht lokal getroffen werden. Es geht darum, das komplette Versorgungsgebiet im Blick zu haben.“ Der KI diese Fähigkeit zur Abwägung und zur Sicht aufs Ganze „beizubringen", damit wird Krumke in der nächsten Zeit beschäftigt sein. Er hofft, seine Simulationsmodelle so noch präziser zu machen – damit die Notfallversorgung in Zeiten des Sparzwangs möglichst effizient ist und bleibt.

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Prof. Dr.
Sven O.
Krumke
Professor für Optimierung
Die Entschlüsselung komplexer mathematischer Strukturen ermöglicht Lösungen, die der Gesellschaft helfen und die Wissenschaft voranbringen.
Sven O. Krumke leitet die Arbeitsgruppe Optimierung im Fachbereich Mathematik. Den Schwerpunkt seiner Forschung bildet die Diskrete Optimierung und ihre Anwendungen sowie die algorithmische Graphentheorie. Der Fokus liegt dabei jeweils auf der Entwicklung von Algorithmen mit mathematisch beweisbaren Gütegarantien.
researcher profile on rptu.de


Du magst noch mehr über mathematische Optimierung erfahren?

Mehr gibt es in der Auswahl an wissenschaftlichen Artikeln oder in den Medienberichten zu Sven O. Krumkes Forschung:

S. O. Krumke, H. N. Noltemeier, „Graphentheoretische Konzepte und Algorithmen“, B.G. Teubner 2012

S. O. Krumke, E. Schmidt, and M. Streicher, „Robust Multicovers with Budgeted Uncertainty“, European Journal of Operational Research, Volume 274, Issue 3, May 2019, Pages 845-857

S. M. Dimant, and S. O. Krumke, „On Approximating Partial Scenario Set Cover“, Theoretical Computer Science, Volume 1023, January 2025.

Interview "Fußball braucht Mathematik" im SWR, 13.12.2023
>> ZUM INTERVIEW

Beitrag "Cleverer Code für Gelbe Engel" im Deutschlandfunk, 27.07.2002
>> ZUM BEITRAG

Artikel "Die Wurzeln des Fortschritts" in Bild der Wissenschaft, 18. März 2008
>> ZUM ARTIKEL

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by Andreas Lorenz-Meyer
Andreas Lorenz-Meyer is a freelance journalist und lives in the Palatinate. He writes for specialised newspapers, the magazines of universities and research institutions as well as daily newspapers in Germany and Switzerland. His main topics in the field of science include artificial intelligence, biology and renewable energies. Further subject areas: Energy industry and the hotel and tourism industry.

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